Brigitta Soraperra

Regisseurin, Dramaturgin, Projektleiterin, Möglichmacherin

Ein Porträt von Gabriele Bösch

Geboren ist Brigitta Soraperra in Bludenz, aufgewachsen in Nenzing. Mit zwei verschlug es ihr die Sprache, weil ihre Schwester einen schweren Unfall hatte. Mit acht begann sie Zeitungen zu lesen, mit zehn las sie auf Anregung des Bruders Jugend ohne Gott und mit sechzehn entschloss sie sich, Regisseurin zu werden. Die Magistra phil. studierte Germanistik, Psychologie, Philosophie und Theaterwissenschaften in Innsbruck und Wien.

Nach über dreißig erfolgreichen Inszenierungen in der Schweiz, Österreich, Süddeutschland und Liechtenstein vertieft Brigitta Soraperra nun ihren Theaterbegriff, indem sie ihre Kunst, ihre Therapieausbildungen und ihre Spiritualität anhand visionärer Projekte vereint. Außerdem kommt sie von Zürich zurück nach Vorarlberg. Hier leben ihre Herzensmenschen, sagt sie. In Feldkirch, im Dreieck zwischen Mühletorplatz, Blasenberg und tibetischem Kloster schlägt sie ihre neuen Zelte auf. Im Interview mit ihr werde ich atemlos. Sie führt ein Leben für drei.

(Titel-)Fotos: ©Gabriele Bösch

Die Tür der wexelstube steht offen, als ich ankomme. Weiße Unterschriften auf dem bruchsicheren Glas. Die Ausstellungsbesucher vom letzten November haben sich hier eingetragen. Eine Vielfalt an Namen, eine Vielfalt an Menschen. Frauen und Männer. Kinder und Erwachsene. Kunstschaffende und Kunstbetrachtende. Zusammen ergeben sie ein Ganzes in der Gestaltung einer Tür, die quasi innen und außen gleichermaßen bespielt wird. Die Kunst am Doppelspalt. Ein leuchtendes Gästebuch.

Türe der wexelstube; Foto: ©Gabriele Bösch

Türe der wexelstube

Hinter Brigitta steht die Bücherwand, vor ihr die große schwarze Tafel, auf der dieses Mal nichts als das Wort „Nichts“ steht. So sitzt Brigitta am langen Tisch, an der zweiten schwarzen Tafel, und arbeitet. Das Stakkato auf ihrer Tastatur macht mich beinahe neidisch, so schnell kann ich nicht schreiben. Und so wie sie lebt, könnte ich nicht leben: Immer zwischen zwei Zügen.

Vorarlberg, Zürich, Liechtenstein. In diesem Dreieck, in dem sich Brigittas Leben bewegt, hatte ich damals (TAK, 2010) mein Live-Hörspiel Gute Nachbarn angesiedelt. Ich schrieb, sie inszenierte. Ich regte mich über die Lacher auf, die sie dem Publikum bescherte. Sie sagte: Vertraue! – und lehrte mich Theater. Auch im tiefsten Ernst steckt ein Quäntchen Humor. Und erst nach der Premiere wurde mir klar, wie sehr sie durch das Vertreiben meiner Panik auch meinen Schreibprozess begleitet hatte. Gespräche und Tee. Ihre Geduld. Ihre Weisheit. Ihr Lächeln. Der Apfelbaum, der damals auf der Bühne stand. Er ist mir Sinnbild für den Auftakt zu dieser Freundschaft geworden.

Vertiefung

Warum willst du ein Porträt über mich schreiben, fragt Brigitta zur Begrüßung. Es war eine spontane Entscheidung, sage ich, ich möchte dich endlich kennenlernen! Wir lachen, da wir beide in den letzten Jahren in den unterschiedlichsten Inhalten zusammengearbeitet haben. Aber haben wir uns je gefragt, weshalb sich unsere Wege immer wieder kreuzten? Welche roten Fäden verknüpfen sich da – und haben wir sie bewusst gelenkt oder hat uns das Leben getrieben? Fragen, die für mich als Frau im Wechsel und Wandel nicht uninteressant sind. Ich habe den größeren Teil meines Lebens hinter mir. Wie wird sich die zweite, kleinere Hälfte gestalten? Bleiben unsere freundschaftlichen Begegnungen einzelne Stationen, oder wachsen sie zu einem gemeinsamen Weg heran? Ein Weg, der sich vielleicht nicht unbedingt in Werken niederschlagen muss, der jedoch eine gemeinsame Haltung gegenüber gesellschaftlichen Belangen hervorbringen mag. Wofür stehen und arbeiten wir?

Die Theatermacherin

Die Theatermacherin

„Das Künstlerische war eigentlich gar nicht mein familiärer Hintergrund“, erzählt Brigitta. „Aber ich habe als Kind viel gelesen. Meine eigentliche Heimat waren die Bücher. Ganz früh Mädchen- und Pferdebücher, bis mein Bruder einmal sagte: `Lies was ghörigs´! Da habe ich dann mit zehn Jahren Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth gelesen und daraufhin alles von ihm, danach Hermann Hesse etc., und parallel dazu dann aber immer auch das Fantastische, Isabel Allende zum Beispiel. Was mich damals eher intuitiv beschäftigt hat, das war später die Faszination an den tiefen Untersuchungen von bestimmten Themen. Ich wusste früh, dass ich die Welt gestalten wollte. Da habe ich mit sechzehn beschlossen, Regisseurin zu werden.“
Mit sechzehn habe ich noch davon geträumt, Ärztin zu werden, denke ich und frage nach, ob ihr Traum als Regisseurin aufgegangen ist.
„Theaterarbeit war für mich nie die fünfhundertste Auflage von Kabale und Liebe“, sagt sie, „mich interessierten die Themen, die es noch nicht gab. Dokumentarisches Theater, das war´s, wo man mit AutorInnen zusammen ein Thema erarbeitet, zusammen am Text arbeitet. Was Originäres entwickeln, das war für mich das Spannendste. Das ist ja das Tolle am Theater: Recherche, Tiefgang, Leute kennenlernen, Austausch…dann die Probenzeit, die eine spezielle Zeit ist, eine Ersatzfamilie quasi. Und du hast dann die Möglichkeit, das Erarbeitete in die Öffentlichkeit zu bringen, als Impuls für die Gesellschaft. Für mich ist es am Schönsten, wenn das Publikum berührt, nachdenklich hinausgeht: Was sagt das über unsere Gesellschaft, was ich hier gehört und gesehen habe? Es ist natürlich toll, wenn meine 85jährige Taufpatin nach den Vagina-Monologen sagt: Wow, wenn ich das alles schon früher gewusst hätte! Oder als dann die Grünen auf uns zukamen, wegen der Liebesdienste, ob man das in den Landtag einbringen solle, bis sich herausstellte, dass alle mit der Situation im Land eigentlich zufrieden waren. Obwohl ich damals vertrat, es brauche ein Bordell in Vorarlberg, ging für mich das Denken weiter: Wieso brauchen Männer eigentlich bezahlten Sex? Es geht mir immer darum, mit dem Theater den Finger auf die Schmerzen zu legen: Was macht es mit Menschen, wenn Geld ins Land kommt, viel Geld, für das sie nicht arbeiten mussten? Das macht manche Menschen korrupt – und schuldig. Und das zeigten wir mit Stefan Sprengers Rubel, Riet und Rock´n´Roll auf… Oder was hat es für die 14, 15, 16 Jahre alten Widerstandskämpferinnen gegen die Nazis in Holland bedeutet, so früh im Leben so schwere Entscheidungen zu treffen, wie haben sie ihre traumatischen Erlebnisse aufgearbeitet? Widerstand. Ein Thema, das ich ja jetzt mit Jägerstätter noch einmal aufgreife.“

Neugier

Die Tabubrecherin

Die Tabubrecherin

Um den Finger auf die Wunden der Gesellschaft zu legen, muss man den Mut haben, Tabus zu brechen. Ich weiß noch, wie ich über die Liebesdienste gestaunt habe, wie ich selbst meine Vorurteile zu bearbeiten hatte, auch in Bezug auf das vieldiskutierte Bordell in Hohenems. Woher nimmt Brigitta diesen Mut?
„Ich bin prinzipiell ein sehr neugieriger Mensch, aber auch sehr mitfühlend und empathisch. Ich kann mich sehr gut in andere hineinversetzen. Einmal habe ich ein Stück über Vergewaltigung gemacht, wo ich in meiner Empathie so weit gegangen bin, dass ich für einen kurzen Moment lang den Vergewaltiger verstanden habe. Das hat mich total erschreckt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es Dinge gibt, die Menschen nicht tun dürfen, die verboten gehören. Aber diese Empathie ist es letztlich, dass ich meine Vorurteile abstreifen kann, was es leichter macht, Themen zu servieren, vor denen sich andere scheuen.“
„Glaubst du, dass Empathie angeboren ist oder dass sie entwickelt wird?“
„Ich glaube, Empathie muss man lernen. Kleine Kinder sind noch nicht empathisch, die sind sogar sehr selbstbezogen. Für mich gehört auch dazu, dass ich mir manchmal ein paar Selbstexperimente zugestehe.“
Brigitta schmunzelt, als sie diesen letzten Satz sagt. Selbstexperimente. Ich wäre neugierig genug, um hier nachzuhaken. Man soll sich ein paar Geheimnisse bewahren, sagt man mir jedoch immer wieder, also lasse ich auch ein paar der ihrigen bei Brigitta, auch wenn sie durchaus von witziger Art wären, wie ich vermute. Das mit zu viel Empathie kenne ich allerdings auch. Ich habe einen fortgeschrittenen Text in die Schublade gelegt, weil die Recherchen zu den Gräueln im Tschetschenienkrieg mich bis in die Träume verfolgt haben. Ich habe die ganze Angst in meiner Seele gespürt. Ich habe den ganzen Schmerz gespürt. Ich habe den Hass als Möglichkeit entdeckt und bin zurückgerudert. Wenn man zu lange in einen Abgrund blickt, blickt er auf dich. Brigitta hat Recht. Es gibt Grenzen der Empathie. Ein Thema, in das wir uns vielleicht noch vertiefen könnten.

Die Möglichmacherin

Die Möglichmacherin

Vor zwei Jahren hat Brigitta mit Janine Köchli zusammen die wexelstube am Mühletorplatz in Feldkirch eröffnet. Ein Raum, den die beiden als Atelier benutzen, aber auch anderen KünstlerInnen zur Verfügung stellen, um Lesungen, Ausstellungen und vor allem Begegnungen aller Art möglich zu machen. Ein außergewöhnliches Unterfangen, da es für die beiden pekuniär defizitär ist. Dieses Unterfangen ermöglichte mir selbst jedoch die erste Ausstellung, die Namen der Besucher sind noch immer in die Tür geschrieben. Einige dieser Menschen haben ihrerseits bereits angefragt, um sich in der wexelstube präsentieren zu dürfen. Ich habe damals gar nicht hinterfragt, wie Brigitta auf dieses Projekt kam. Ist es ihrer sozialen Ader zuzuschreiben?
„In fast jeder Kritik zu meinen Inszenierungen ist von meiner Feinfühligkeit die Rede. Über die Empathie haben wir ja schon gesprochen. Ich glaube, dass ich ein Talent habe, Menschen in ihren Talenten zu erkennen. Ich möchte sie darin unterstützen. Das, was ich erkenne, zum Leuchten bringen, weil ich daran glaube. Vielleicht auch, weil ich selber sehr lange gebraucht habe, um mich selbst als Künstlerin für wahr zu nehmen. Seit 1995 mache ich Inszenierungen – also muss ich doch wohl Regisseurin sein, rechtfertige ich mich noch immer selbst… Die wexelstube ist in diesem Sinne ein Experiment und ich erlaube mir zu experimentieren. Der Raum steht zur Verfügung und wir bieten eine Möglichkeit. Es ist kein Geschäftsmodell. Andere haben halt ihr Ferienhaus. Den Betrag, für den andere in den Urlaub gehen, stecken wir in die wexelstube.“
Ich weiß, dass Brigitta einen Teil ihres Lebensunterhalts seit zehn Jahren als Bade- und Saunameisterin in Zürich verdient, nicht zuletzt darum, um sich zu leisten, nur jene Theaterprojekte anzunehmen, von denen sie überzeugt ist. Für die sie brennt, wie sie sagt. In über 30 Inszenierungen gab es auch nur eineinhalb Flops, lacht sie. Sich selbst die Kunst finanzieren, um frei zu sein. Andere in ihrer Kunst unterstützen, um was zu tun? Die allgemeine Freiheit zu vergrößern?
„Wir gehören doch alle zusammen“, sagt Brigitta, „wir können nur zusammen etwas bewirken. Es macht mir Spaß. Und ich glaube daran, dass Menschen sich gegenseitig befruchten.“

Dankbarkeit

Es gibt Vieles, wofür ich Brigitta dankbar bin. Für das gemeinsame Theaterstück. Für die Ausstellung. Für die liebevollen Briefe. Für die Aufmunterung und für die kritischen Fragen. Für ihre gesendeten Bücher zu meinem Geburtstag. Für ihre durch nichts zu erschütternde Treue. Für ihre ansteckende Begeisterung. Für ihren Tiefsinn. Für ihr Querdenken. Dankbar bin ich dem Menschen Brigitta auch für die Tränen; sie zeigen mir jene Grenze, an der ich aufwache: nicht alles für selbstverständlich zu erachten, was Brigitta mir und anderen angedeihen lässt. Sie hat für vieles gekämpft und eine Ausbildung nach der anderen absolviert, um ihre Kompetenzen zu verdichten.

Die Visionärin

Die Visionärin

Anders als die Theatermacherin, die durchaus ihre Finger in die Wunden der Gesellschaft legen mag, ist die Visionärin Brigitta daran interessiert, das, was sie als sinnvoll und gut erkennt, zu stärken. Durch ein berufsbegleitendes Studium (Psychotherapeutisches Propädeutikum), und durch die Ausbildungen in Systemischer Aufstellungsarbeit (Familienstellen) und Soziokratie (Effektives Arbeiten in partizipativen Organisationsstrukturen) hat sie sich einen zweiten Weg gebahnt, der immer wieder in Visionsbewegungen mündete.
Wie kam es zu diesem Weg?
„Ich bin ja doch Künstlerin, bin es gewohnt, mir Gedanken zu erlauben, mir Dinge vorzustellen, die noch nicht real sind, von denen ich aber das Gefühl habe: Das ist wichtig! Das braucht es! Ich gebe dann auch nicht gleich auf, bleibe dran, weil ich das ja alles weiß und kann: ein Konzept schreiben, auch wenn noch alles ein bisschen in Schwebe ist, die Finanzierung aufstellen – und es zu Ende bringen. Ich habe selten in meinem Leben Projekte nicht zu Ende gebracht, auch wenn das zum Teil über meine persönlichen und gesundheitlichen Grenzen ging… Es ist ein Umbruch, da bin ich hineingewachsen. Weg vom Theater hin zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Es ist, als ob alles zusammenkäme… Mich hat interessiert, wie Menschen funktionieren und wie ich selber funktioniere, darum die Ausbildung bei Eva Gold. Mich hat interessiert, wie gehen wir gemeinsam gut weiter, was für ein Management brauchen wir, deshalb die Soziokratie. In die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse kann ich das alles einbringen: Die Kunst. Die Therapie. Die Spiritualität. Das ist nicht mehr Theater. Das ist eine andere Kunst. Theater ist doch auch sehr flüchtig. Ich möchte etwas aufbauen, was der Gesellschaft bleibt.“

Es waren die existentiellen Lebensfragen, die Brigitta durch ihre Inszenierungen stellte: Leben und Tod. Einmal Himmel und zurück. Dem Tod ist sie andererseits auch in ihrem Engagement für den Verein „Abschied in Würde“ begegnet. Jetzt möchte die Künstlerin Hebamme sein. Sie hat mit sieben anderen Frauen (Geburtshelferinnen, Ärztinnen, Therapeutinnen, einer Architektin) die Interessengemeinschaft Geburtskultur a -z gegründet. Geburtskultur von achtsam bis zeitgemäß. Es geht um Bewusstseinsarbeit, darum, die Geburt ins Zentrum der Gesellschaft zu holen, ihre Bedeutung für ein gelingendes Leben sichtbar zu machen. Es geht aber auch um eine größere Vision.
Wie kam es dazu?
„Ich habe nach einem Aufbauprojekt gesucht, bei dem ich alle meine Talente und Fähigkeiten einsetzen kann. Ursprünglich dachte ich, das könnte die Hospizbewegung sein. Dann kam es zu einer schicksalhaften Begegnung. Ich traf Kathi, die mir von ihrem heimlichen Traum erzählte… Sie zeigte mir den Entwurf für ein modernes Geburtshaus für Vorarlberg.“
Ich fünffache Mutter staune, wie meine Freundin, die keine Kinder hat, beim Wort „Geburtshaus“ auf besondere Weise erwacht. Die Ernsthaftigkeit der Arbeit, an der sie gesessen war, als ich kam, ist aus ihren Zügen gewichen. Ihr Gesicht leuchtet.
„Als ich diesen Glas-Lehmbau sah – Geburtszimmer wie sanfte Kokons, sonnige Familienzimmer für´s Wochenbett, die räumliche Nähe zum Krankenhaus… da fiel bei mir der Groschen. Das ist der Mehrgewinn, dachte ich, das ist das, was dem Land fehlt. Und als Künstlerin war ich schon immer Hebamme! Ich habe unzählige Projekte auf die Welt gebracht! Wir fanden sofort andere interessierte Frauen, schlossen uns zusammen und nahmen Kontakt auf, mit Politikern, mit Organisationen, mit Hebammen, mit den Leitern der Geburtenstationen… Ich habe alles gleich in die Umsetzung gebracht… Es geht nur im Miteinander, sich gegenseitig ergänzen, stärken… Ich weiß, es ist noch ein langer Weg vor uns, vielleicht die Besteigung eines 8000ers, aber ich bin da am richtigen Platz. Weil es wichtig ist. Weil es Sinn macht. Mein Handeln muss immer mit Sinn zu tun haben.“

Auch für diese bislang ehrenamtliche Initiative bin ich Brigitta dankbar. Ich habe aufgehört Kinder zu bekommen, als das Entbindungsheim schloss. Ich würde mir wirklich wünschen, dass meinen Töchtern ein solches Geburtshaus zur Verfügung stünde. Dass ihre Kinder auf so feine Weise auf die Welt kommen, wie es mir möglich war, zu entbinden. In meinem Tempo. Mit meiner Musik. Nach meiner Art. Die Nabelschnur durfte langsam auspulsieren.

Freude

Wir verlassen die wexelstube, um Janine zu einem gemeinsamen Mittagessen zu treffen. Wir gehen zu Fuß und plötzlich wird mir klar, dass man mit Brigitta keinen Meter geht, auf dem nicht irgendjemand sie grüßt. Wenn man ihre Bekannten und Freunde meterweise aneinanderreihte, wie viele Kilometer kämen raus, frage ich mich staunend. Ich bin wohl zu einsam unterwegs, denke ich plötzlich, aber es tröstet und freut mich, Teil ihres Netzwerks zu sein.
Weiter auf dem Weg zum Café zeigt sie mir ihre neue Mansardenwohnung. Brigitta wird von Zürich nach Feldkirch ziehen. Ein Zimmer für mich allein fällt mir ein. Und dass die Ill wundersame Ruhe zu verbreiten imstande ist. Die Terrasse ist eine Insel in dieser Stadt.

Das zwischen „zwei Zügen“ bleibt dennoch erhalten, wie Brigitta mir einen Tag später schreiben wird. Ab Herbst 2017 hat sie einen Lehrauftrag an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie soll die Theaterpädagogik Studierenden lehren, dass Theater ein Mittel für gesellschaftliches Handeln ist. Sie wird die Studierenden bei Projekten, die unter dieser Prämisse stehen, begleiten und auch die Themen vorgeben. Das sei eine echte Weiterentwicklung auf ihrem Theaterweg, meint sie. Sie könne da alle Kompetenzen einbringen, die sie sich erworben habe. Sie könne ihren Theaterbegriff weitergeben und das Coaching, das sie in den letzten Jahren gelernt habe, umsetzen.

„Sag mal“, sage ich, „was würdest du eigentlich tun, wenn du nichts tun müsstest?“
„Oh, ich hätte schon gerne ein Sabbatical“, lacht sie, „dann würde ich endlich alle diese Bücher lesen, die ich mir in den letzten Jahren gekauft habe… Jetzt ist ja alles, was ich lese, projektbezogen… Ich würde gerne mal so in den Tag `hineinhüsla´, dann kämen die Ideen für neues Tun!“

Da werde ich still. Und atemlos. Andererseits. Ich muss mich ja nicht an meiner Freundin messen. Ich kann sie ganz einfach ehrlich bewundern. In Vorarlberg habe sie ihre Herzensmenschen, hat Brigitta einmal gesagt. Ich auch, denke ich, und freue mich herzlich darüber, dass sie nun öfter da sein wird.

verfasst im Juli 2017

von Gabriele Bösch:

Die gebürtige Koblacherin ist freie Schriftstellerin und wurde zweimal mit dem Literaturstipendium des Landes Vorarlberg ausgezeichnet: 2004 für ihr Manuskript „Der geometrische Himmel“ (die Erzählung ist 2007 erschienen) und 2016 für ihren Gedichtzyklus „camera obscura“. 2012 veröffentlichte sie ihren viel beachteten Roman „Schattenfuge“. Gabriele Bösch lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Hohenems. (Facebook-Seite von Gabriele Bösch)