Lisa Theissl

Studentin an der Artistenschule „Die Etage“ in Berlin

Ein Porträt von Stefan Schlenker

Klein war sie, schüchtern und still. Lisa kam in meine Zirkusgruppe, als sie neun Jahre alt war. Zuvor hatte sie schon zweimal den jährlichen Sommerworkshop besucht und sich nach dem dritten Workshop entschieden, beim ganz kleinen Zirkus mitzumachen. „Der ganz kleine Zirkus“, das ist das Zirkustheaterensemble der Musikschule Dornbirn, das ich seit mittlerweile 25 Jahre leite. Zweimal pro Woche wird in der Turnhalle trainiert, dazu gibt es immer wieder Wochenenden, an denen wir proben und trainieren und einmal im Jahr gibt es die großen Aufführungen im Kulturhaus. Dazwischen kleinere und größere Auftritte bei verschiedenen Anlässen.

Und nun war also Lisa dabei. Sie fand eine Zirkusfreundin im gleichen Alter und übte fleißig, ausdauernd und konzentriert. Ansonsten war sie unauffällig und still.
Andere Zirkusschülerinnen und -schüler zeigen ihre Fortschritte gerne, suchen die Bestätigung, das verdiente Lob und das Rampenlicht. Sie üben oft in der Nähe der Trainer, fragen viel, holen sich Rat und zeigten stolz ihre Fortschritte.
Nicht so Lisa. Sätze wie „Schau, ich kann den neuen Trick schon!“ oder „Jetzt habe ich mit vier Bällen 20 Würfe geschafft!“ hörten wir von ihr nie.

(Titel)Fotos: ©Lisa Theissl/Stefan Schlenker

Ihr Platz in der Turnhalle war immer der entlegenste Teil, hinter dem Bereich, in dem Trapeze und Vertikaltücher hängen. Dort lernte sie ihre ersten Jongliertricks mit drei Bällen, später das Jonglieren mit Keulen, Einrad fahren, die Balance auf Rola Bola und Laufkugel.
Natürlich schaute ich immer wieder, was Lisa dort macht, gab ihr Tipps oder zeigte ihr neue Tricks. Aber es schien mir, dass sie am liebsten alleine oder mit ein, zwei Zirkusfreundinnen übte. Was es Neues zu üben gab, das schaute sie sich bei mir und anderen ab. Fast unbemerkt vom Rest der Gruppe machten sie gewaltige Fortschritte und verblüfften das Publikum bei ihrem ersten Auftritt im Kulturhaus mit einer anspruchsvollen Darbietung. Sie zeigte mit ihrer Freundin auf den Laufkugeln eine tolle Jongliernummer.

Bei der dritten Produktion, an der sie mitwirkte, wollte ich sie mehr ins Rampenlicht holen. Lisa bekam eine Rolle, in der sie – noch vor dem geschlossenen Vorhang – das Programm eröffnete. Und was soll ich sagen, wir waren alle verblüfft. Keine Spur von Unsicherheit, keine Schüchternheit. Lisa sprach mit kräftiger Stimme, spielte ihre Rolle überzeugend und jonglierte drei Keulen ohne einen Anflug von Nervosität. Das war der erste Blick auf eine Lisa, wie wir sie noch nicht kannten, das war eine Seite, die sie uns so noch nie auch nur ansatzweise gezeigt hatte.

Die Jahre gingen dahin und Lisa blieb in der Turnhalle weiterhin in ihrer Ecke. Aber um sie herum fanden sich immer wieder Zirkusschülerinnen, die ähnlich ruhig waren wie sie. Als diese Gruppe dann das Seilspringen für sich entdeckte, begann Lisas Stern richtig zu leuchten. Mit ihren Zirkusfreundinnen erfand sie Formationen mit zwei oder mehr langen Seilen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Der Kreativität schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Immer wieder saßen sie am Boden und brüteten über neuen Abläufen, bei denen ich mir sicher war, dass das so nie funktionieren kann. Aber sie übten und probierten so lange, bis es klappte.

Dann kam der Tag, als Lisa uns alle sprachlos machte. Wir waren mit einer kleinen Show bei den Dornbirner Schultheatertagen dabei und wählten als Thema „Flowerpower“. Lisa hatte mittlerweile Hula Hoop zu lernen begonnen und unbemerkt und im stillen Kämmerchen geübt. Und wie! Ich gab ihr lediglich die Musik zu ihrer Nummer, danach hörte und sah ich nichts mehr. Auch bei den ersten Proben nicht. Sie sagte immer, sie sei noch nicht so weit.

Dann, bei der letzen Probe, zeigte sie endlich ihre Hula Hoop Nummer. Mit bis zu vier Hoops.

Niemand konnte ahnen, was da kommen würde. Perfekt auf die Musik abgestimmt, jede Bewegung, jede Geste elegant und sicher, den Blick stolz ins Publikum und immer mit einem strahlenden Lächeln. Das war eine ganz neue Lisa. Weitere tolle Nummern folgten.

Nach der Matura verließ sie uns in Richtung Studium. Innsbruck. Doch das Studium behagte ihr wohl nicht, so schloss sie sich einer Gruppe von Artisten an, die in Innsbruck täglich trainierten.
Kurz danach kam die große Überraschung. Lisa hat die Aufnahmeprüfung für „Die Etage“ – Schule für die darstellenden und bildenden Künste in Berlin geschafft. Im Oktober fängt ihre 3-jährige Ausbildung zur professionellen Artistin und Akrobatin an.

Als ich vor vielen Jahren mit dem ganz kleinen Zirkus anfing, war es mein erklärter Wunsch, dass einmal eine Schülerin oder ein Schüler von mir die Profilaufbahn einschlägt. Es ist schön, dass gerade die ehemals kleine, schüchterne und stille Lisa mir diesen Wunsch erfüllt.

verfasst im August 2017

von Stefan Schlenker:

Der gebürtige Deutsche lebt seit über 20 Jahren in Vorarlberg. Stefan Schlenker ist Musiker, Kabarettist, Buchautor und Initiator von „Der Ganz Kleine Zirkus“. Dieses Zirkustheaterensemble bietet interessierten Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich selbst als (Zirkus)Artisten auszuprobieren und Bühnenluft zu schnuppern (Homepage von Stefan Schlenker ).